Das helle Leben
Frühjahrstreffen des Dante-Zentrums für Poesie und Poetik
Retz, Deinzendorf (NÖ)
4. - 7. 4. 2024
„Vassene il tempo“! Während Dantes fiktive Jenseitsreise vor nunmehr 724 Jahren, am Karfreitag 1300 begann, feiert das Dante-Zentrum 2024 sein vierjähriges Bestehen. Das nehmen wir zum Anlass, um unsere Aktivitäten rund um Dante und die zeitgenössische Poesie mit neuem Elan wieder aufzunehmen. Zusammen mit Schriftstellerinnen, Wissenschaftlerinnen und Studierenden werden literarische Beziehungsweisen ausgelotet, gemeinsame Lektüren erprobt, Interpretationen zur Debatte gestellt und neue Übertragungen gewagt.
Auch wenn wir ein Stück des Weges bereits zurückgelegt haben, bleibt die Ausgangslage dennoch vertrackt: Das Grundbuch des westlichen Kanons als Erkenntnisquelle, Wegweiser, Spielwiese gar? Wird hier dem Unterirdischen oder Übermenschlichen der Vorzug vor den drängenden Fragen der Gegenwart gegeben? Oder kommentiert Dantes Schattenwelt, in dem Maße, wie sie ein Abbild unserer irdischen ist, diese nicht vielmehr implizit?
Vielleicht empfiehlt es sich ja, beim „Inferno der Lebenden’ zu beginnen, das Italo Calvino in Die Unsichtbaren Städte nicht umsonst von jenem der Toten unterschieden hat. Es sei eine Aufgabe, schrieb Calvino weiter, inmitten des Infernos das zu erkennen, was nicht Inferno sei, es hochzuhalten, ihm Raum und Dauer zu verleihen.
Ähnlich geht Dante in seiner Commedia vor, wenn er das Paradies in der Fluchtlinie der Hölle verortet, alle erdenklichen Sphären durchmisst und so das Ruder seiner Rettung letztlich selbst in die Hand nimmt. Denn für den Wanderer durch das Jenseits und Vertriebenen im Diesseits war der Verlust des Gewohnten und Schönen eine Kränkung, die nicht hinzunehmen war. Er konzipierte sein Weltgedicht nicht zuletzt, um „das helle Leben“ (Inf. 15), die Zeit vor dem Exil heraufzubeschwören und für seine gefährdete Existenz zu kämpfen.
Darum sind Autor („poeta“) und Hauptfigur („personaggio“) der Commedia auch ein und dieselbe Person, und darum lässt sich mit dem Berichterstatter Dante, der nach der Durchquerung des Höllentrichters die Sterne und das Meeresrauschen und das Farbenspiel der Schöpfung wiederfand, immer neu die Frage stellen: In welcher Welt leben wir? Und Dantes Vision, mit mathematischer Sorgfalt und verblüffendem Detailsinn ausgestaltet, öffnet zeitgenössischen Spracharchitekturen Tür und Tor.
Die Renaissance des Dante-Zentrums feiern wir mit mehreren, meist öffentlich zugänglichen Initiativen, zu denen neben Lyrik-Lesungen, Vorträgen und Gesprächen auch eine dreisprachige Lectura Dantis, eine Terzinen-Werkschau sowie ein Bibliotheksworkshop gehören. Den Abschluss macht ein Ausflug in die Kindheitslandschaft Friederike Mayröckers, den Weinort Deinzendorf, wo „wie ein staunendes Tagträumen vor dem immerwährenden Anbruch einer fabelhaften Morgenröte“ (F. M.) an die Dichtung der 2021 verstorbenen Lyrikerin erinnert wird.
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Programm:
4. 4. 2024
19.00h
Kulturhaus Schüttkasten
(Pfarrgasse 9, 2070 Retz)
Einführung, Begrüßung
Theresia Prammer (Dante-Zentrum)
Nicola Gardini
Lectura Dantis
„Thinking like Others. Empathy and Individuality in the Divine Comedy“
„Denken wie die Anderen. Empathie und Individualität in Dantes Commedia“
5. 4. 2024
9.30h – 12.30h
Kulturhaus Schüttkasten
„Wie von Ast zu Ast gelesen“
Vorträge, Kommentare und Gespräche
Theresia Prammer: „Im Reich der Geister“. Gedanken zu einer Sammlung
Monika Rinck: Unterweltreisen mit Alice Notley
Norbert Hummelt: Dante und Eliot
Pause
Andrea Renker: Mitteilungsblätter der Deutschen Dante-Gesellschaft: Il novo giorno
Ferdinand Schmatz: Eine kleine Lektüre zu Dante
Olga Martynova: Inferno XV
14.30h
Kulturhaus Schüttkasten
Vorträge
Thomas Poiss: Form und Funktion der Terzine. Einige systematische Überlegungen
Dennis Wegener: Die Produktion und Rezeption mittelalterlicher Handschriften unter Berücksichtigung von Dantes Divina commedia
16h – 18h
Dominikanerkloster Retz, Gästehaus
(Seminarraum)
Workshops
1.
Retzer Terzinen
Terzinen-Werkstatt
2.
„Gedächtnis, das du schriebst, was ich gesehen“
Bibliotheks- und Abschreibworkshop (Fortsetzung aus 2021)
18.30h
Kulturhaus Schüttkasten
Franz Josef Czernin
„stern um stern“
Dante-Verwandlungen
Einführung, Gespräch: Marco Baschera
(In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft zur Erforschung von Grundlagen der Literatur)
20h
Kulturhaus Schüttkasten
Lesungen
Norbert Hummelt, Christian Filips, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz
6. 4. 2024
9.30h (pünktlich!)
Kulturhaus Schüttkasten
„Wie von Ast zu Ast gelesen“
(Fortsetzung)
Elisabetta Mengaldo: Dante in Marx' Kapital
Michael Donhauser: Entnebelungen
Christian Filips: Dante diachron
Pause
Franz Josef Czernin: Zum Begriff der Verwandlung
Marco Baschera: Vermag Dichtung Transzendentes zu vermitteln? Poetologische Überlegungen anhand der Divina Commedia von Dante
Gustav Sjöberg: Zur Poetik des Paradieses
13h
„Das helle Leben“
Spaziergang
15h
Annamaria Cattaneo: Dante und die Hypersphäre. Bilder und Visionen
15.30h – 16h
Italienisch für Dante-Leserinnen
(Italienisch/Deutsch)
Mit Nicola Gardini, Roberto Galaverni, Elisabetta Mengaldo, Theresia Prammer u.a.
16.30h
Kulturhaus Schüttkasten
Nicola Gardini: Latein lebt
Eine Recherche
(Deutsch/Italienisch/Latein)
18h
Lesungen
Olga Martynova, Michael Donhauser, Gustav Sjöberg
Sonja vom Brocke: Mildeste Hölle
Dante-Tombola
7. 4. 2024
Umgekehrte Idyllen. Friederike Mayröckers Deinzendorf
Matinee mit Ausflug
Kuratiert von Sophie Liepold, Regina Menke und Frieda Paris
10h
Kulturhaus Schüttkasten
Matinee
12.30h
Ausflug nach Deinzendorf
Weinstimmig Dworzak
Ausklang und Abschied
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«Là sù di sopra, in la vita serena»,
rispuos' io lui, «mi smarri' in una valle,
avanti che l'età mia fosse piena.»
Inf. 15
„Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe."
Friedrich Hölderlin
Materialien für Workshop: